In Ralf Kopps Serie "Realitätsprinzip" (2013) scheinen Fiktion und Realität aufeinander zu treffen, denn die Bauwerke auf den Euro-Scheinen gibt es in Wirklichkeit nicht. Es handelt sich lediglich um eine Addition von Stilmerkmalen einer Epoche. Sie symbolisieren Idealbilder europäischer Baustile und verkörpern so die Utopie eines vereinten Europas. Im Gegensatz dazu versinnbildlichen die Obdachlosen Armut und Massenarbeitslosigkeit, die in einigen europäischen Ländern in den letzten Jahren stark angestiegen sind. Der Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit wird auch durch den Kontrast zwischen fotografischer Abbildgenauigkeit der dargestellten Menschen und der grafisch-monochromen Ästhetik des Geldscheines betont. Durch die starke Vergrößerung des Geldschein-Ausschnitts ist gut erkennbar, dass die einzelnen Flächen nur mit Schraffuren und Linien gefüllt sind. Es scheint fast, als mangele es den Bauten an Substanz. Zudem stehen sie nicht auf festem Grund, sondern sind von abstrahierten Formen umgeben. Wie bei einer Filmkulisse gibt es keinen Raum dahinter, so dass die vermeintlichen Bauwerke "nur Fassade" sind.
Der Titel der fünfteiligen Serie spielt auf das "Principle of Minimal Departure" (dt. "Realitätsprinzip"), des amerikanischen Philosophen John Searle an, mit dem sich die Narratologin Marie-Laure Ryan intensiv beschäftigt hat. Hierbei wird der Zusammenhang von fiktionaler Erzählung und Wirklichkeit thematisiert. Der Leser eines Textes füllt die Lücken der Geschichte gedanklich mit Fakten der ihm bekannten Umwelt, und zwar solange, bis andere Informationen geliefert werden. Ein Hase wird als Hase aus der Realität begriffen, bis der Text beschreibt, dass er rosa ist. Weitere Merkmale des Tieres ändern sich dadurch nicht. Ein drittes Ohr würde dem Hasen erst wachsen, wenn beschrieben wird, dass er drei Ohren hat. Die Fiktion vor dem inneren Auge weicht also nur so minimal wie möglich von der Wirklichkeit ab, weil wir nur auf Bekanntes zurückgreifen (können). Auf diese Weise vermischen sich die Ebenen von Realität und Fantasie bzw. das Tier wird transformiert und in eine Fiktion überführt.
Ähnliches passiert bei der Beschäftigung mit Ralf Kopps "Realitätsprinzip". Erfährt der Betrachter, dass die abgebildeten Bauten nur erdacht sind und es sich bei den Obdachlosen um eine Inszenierung mit Freunden des Künstlers handelt, entsteht eine von der Wirklichkeit abstrahierte Ebene. Während aber der rosa-farbige, dreiohrige Hase in der Fiktion verhaftet bleibt, verweisen die Arbeiten des "Realitätsprinzips" mit ihren Architekturen und Obdachlosen auf die Wirklichkeit zurück.
Die Vermischung von fiktiver und realer Ebene ist bereits in den Euroscheinen selbst angelegt. Mit seiner Serie greift Ralf Kopp den Gedanken auf und entwickelt ihn weiter. Da sowohl die Gebäude als auch die Personen nur inszeniert sind, stellt sich die Frage nach dem Realen im "Realitätsprinzip". Diese führt zu den Banknoten selbst. Durch die vergrößerte Darstellung sind die optischen Charakteristika der Geldscheine, wie die Hologramme und vor allem die mikroskopisch kleinen Muster gut erkennbar. Sie dienen der Fälschungssicherheit und weisen somit die Banknoten als echtes Geld aus. Zudem wählt der Künstler einen Bildausschnitt, der den gedruckten Nennwert der Scheine zwar anschneidet, aber dennoch einwandfrei erkennbar dargestellt. Weiterhin verwendet Ralf Kopp für die Serie keine Abbildungen der Banknoten, sondern dem Geldumlauf entnommene, echte Scheine, wie die noch sichtbaren Gebrauchsspuren beweisen. Somit ist es das Geld, dem die realste Rolle in der Serie zukommt. Die Banknote selbst ist das Bauwerk, in dem die Obdachlosen Schutz und Zuflucht suchen, denn es ist das Prinzip des Geldes, das die Existenzgrundlage in einer kapitalistischen Realität beherrscht.
© Tina Sauerländer 2015
Diasec
60 x 90 cm
Auflage 6 (+ 1 A.P.)
2013